Mittwoch, 1. Januar 2014

Angora

Ein schwerer Ammoniakgeruch liegt in der Luft. Es stinkt nach Fäkalien. Es ist dreckig und alles ist von einer soliden Schicht aus Staub und feinen Haaren bedeckt. Bis auf ein leises Knabbern und gedämpfte metallische Geräusche herrscht Stille. Die Halle ist gefüllt mit 
langen Reihen aus eisernen Konstruktionen und schmalen, geraden Gängen dazwischen. 
Aus einer Ecke sind menschliche Tritte zu hören. Am Ende einer der Gänge erscheint ein Arbeiter mit einem Holzgestell unter dem Arm, das er in die Mitte des Ganges stellt. Es besteht aus einer schmalen Latte, die auf vier Beinen befestigt ist, und sieht aus wie eine Art Bock. Eine Miniatur-Streckbank. 
Der Mann öffnet eine der kleinen Gittertüren. Er greift hinein und nach einigen Sekunden zerrt er ein weißes, zappelndes Knäuel hinaus.

Ein Kaninchen. Mit langen, flauschigem Fell. Es ist ein Angorakaninchen. Der Name stammt von der sogenannten Angoraziege, die aus der türkischen Provinz Ankara -damals noch Angora- stammt. Das Fell der beiden Tiere weißt gewisse Ähnlichkeiten auf, sodass man den Namen einfach übernahm. Mittlerweile bezeichnet der Begriff Angora jedoch offiziell nur noch die Wolle des Kaninchens. Aus den feinen, gut wärmenden Fasern kann ein Garn gesponnen werden, welches -meist in Kombination mit anderer Wolle- zu Textilien verarbeitet wird. 

Mit der einen Hand packt der Arbeiter das Tier im Nacken und hält es fest. Mit der anderen zieht er eine Kordel aus der Tasche, mit der er geschickt eine feste Schlinge um die Vorderbeine legt. Das Tier wird auf den Bock gelegt und die Beine an das Brett gefesselt, sodass das Tier in einer gestreckten Position fixiert ist. 

Für Kaninchen ist das eine schreckliche Erfahrung. Sie sind Fluchttiere und immer in Bereitschaft vor etwaigen Fressfeinden zu fliehen. Sich Hinlegen oder gar Vorder- und Hinterläufe ausstrecken tun sie nur, wenn sie sich wohl und absolut sicher fühlen. Gewaltsam in die Länge gezogen und auf ein Brett gebunden zu werden ist sicherlich für kein Tier ein Vergnügen. Aber für Kaninchen stellt diese Situation eine besondere Qual dar.

Doch die eigentliche Tortur hat noch gar nicht begonnen. Nachdem das Tier nun also erfolgreich festgebunden worden ist, nimmt der Arbeiter auf dem freien Stück des Brettes hinter dem Tier platz und beginnt mit flinken, energischen Bewegungen Büschel um Büschel des weißen, weichen Fells herauszureißen. Während das sich windende Tier, von Schmerzen gequält, markerschütternde Schreie von sich gibt, schwindet der feine Pelz im Sekundentakt und nackte, rosafarbene Haut kommt zu Vorschein.

Manchmal werden die Kaninchen auch geschoren oder das Fell wird abgeschnitten, wobei die zappelnden Tiere jedoch auch oft verletzt werden. Trotzdem ist Schneiden und Scheren weniger schmerzhaft als Ausreißen. Und obwohl diese etwas tierfreundlicheren Methoden existieren, fiel die Wahl -wie so oft aus rein wirtschaftlichen Gründen- auf das Rupfen. Es geht schnell, fordert keine gelernten Arbeitskräfte oder teure Maschinen und bringt außerdem noch höhere Erträge. Kurz: Die effizienteste sowie denkbar abstoßendste Art der Wollgewinnung.

Nach dieser folterähnlichen Prozedur, bei der nur Pfoten, Schwanz und Kopf der Tieres verschont blieben, wird die völlig entstellte Kreatur in ihren Käfig zurück gesetzt. In eine Art Schockstarre verfallen, kauert das Tier in einer Ecke. Außer ein paar apathischen Bewegungen, bleibt es regungslos. Während es sich so von seiner Behandlung erholt, widerfährt seinen Artgenossen in den Käfigen rechts und links und über und unter und vor und hinter ihm das Gleiche: Fesseln, Streckbank, Rupfen. 

Eine solche "Fellernte" findet für zwei bis fünf Jahre etwa alle drei Monate statt. Danach werden die Tiere geschlachtet und gehäutet. Auch das Leder wird verkauft. 
Im Jahr "produziert" ein Angorakaninchen bis zu 1430g Wolle. Früher waren es gerade einmal um die 400g. Doch durch gezielte Züchtung konnte dieser Wert fast vervierfacht werden, sodass wertvolle Exemplare guter Rassen nun solche Höchstleistungen erbringen. Oftmals handelt es sich dabei um Qualzuchten.
Weltweit gibt es fünf Rassen: Das Englische, Französische, das Deutsche, das Giant Angora (amerikanisch) sowie das Satinangorakaninchen. 

Die Ursprünge der Rassen sind nicht bekannt, doch man geht davon aus, dass die Tiere im späten 18. Jahrhundert von England nach Deutschland kamen, wo sie lange eine wirtschaftliche Rolle spielten. So wurden 1941 noch etwa 25.000 Angorakaninchen zu kommerziellen Zwecken gehalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Produktion von Angorawolle noch ein wichtiger Wirtschaftszweig der DDR, doch nach und nach verlor sie auch dort an Bedeutung. Die neu aufkommenden, deutlich billigeren Kunstfasern verdrängten die Wolle vom Markt. 

Wie man es von zahlreichen anderen Industriezweigen kennt, wurde die "Herstellung" in Europa zu teuer, sodass sich die heutigen Produktionsstätten größtenteils in Asien befinden. 90% der weltweit vertriebenen Angorawolle stammt aus China. Einem Land, in dem keinerlei gesetzliche Bestimmungen über den Umgang mit Tieren oder Strafen für Tierquälerei existieren. 
Schätzungen zufolge sind es etwa drei bis fünf Millionen Angorakaninchen, die in chinesischen Pelzfarmen ihr Dasein fristen.

Damit das Fell möglichst unversehrt bleibt, werden die Tiere in Einzelhaft gehalten. In Käfigen, die nicht größer als ein halber Quadratmeter sind. Drei blanke Wände, eine schräge Decke (Rampe für die Fäkalien des Tieres darüber), eine Gittertür mit Futterklappe und ein Spaltenholzboden. Diese Kästen befinden sich, zu mehreren Stockwerken über einander gestapelt und in ordentlichen Reihen aufgestellt, in riesigen, fabrikähnlichen Hallen. 

Hier wird Angora für die ganze Welt hergestellt. Industrialisiert, effizient und konkurrenzfähig. In einem Wort: Billig. Eben genau das, was der europäische Verbraucher erwartet. Zwei Paar Socken für vier Euro. Eigentlich ein bisschen zu teuer, oder nicht?




Quellen: 
http://www.peta.de/Angora
http://www.sueddeutsche.de/panorama/grausames-fellabziehen-hm-und-ca-wollen-angora-kleidung-verbannen-1.1830440
http://www.youtube.com/watch?v=Zjd_xdpGKbc
http://de.wikipedia.org/wiki/Angora
http://de.wikipedia.org/wiki/Angorakaninchen

Hinweis: Dieser Artikel ist keine wissenschaftliche Arbeit. Er enthält narrative Elemente. 

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